Kugelhagel in Kiew
In der ukrainischen Hauptstadt beschießen sich Regierungsgegner und Polizei gegenseitig. Bis zum Abend erneut Dutzende Tote. Bürger fliehen aus Stadtzentrum
Von Reinhard Lauterbach
Die Umgebung des Unabhängigkeitsplatzes in Kiew war am Donnerstag Schauplatz heftiger Feuergefechte zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Bis zum Abend zählten Medien mehrere Dutzend Tote. Allein im zur Leichenhalle umfunktionierten Foyer des Hotels »Ukraina« waren bereits am Vormittag 13 Tote aufgebahrt. Ärzte bestätigten, daß die Sicherheitskräfte scharfe Munition einsetzten. Amateurvideos zeigen Polizisten mit Scharfschützengewehren im Anschlag. Das Innenministerium ordnete der Nachrichtenagentur dpa zufolge an, Sicherheitskräfte könnten landesweit mit scharfer Munition gegen radikale Demonstranten vorgehen. Aber auch die militanten Demonstranten sind inzwischen im Besitz von Schußwaffen und benutzen sie.
In der Nacht hatten die Führer der parlamentarischen Opposition noch einen Waffenstillstand mit Präsident Wiktor Janukowitsch ausgehandelt. Aber die militante Gruppe »Rechter Block« erklärte von Anfang an, sie fühle sich an die Vereinbarung nicht gebunden. Anhänger der Gruppe eroberten den Europaplatz und das anliegende »Ukrainische Haus« zurück. Dabei fielen etwa 60 Polizisten in ihre Hände, die im Schlaf überrascht worden waren. Die Regierungsgegner drohten mit Gewalt gegen die Geiseln, wenn die Polizei ihre Angriffe nicht einstelle. Die Eskalation der Kämpfe hat dazu geführt, daß immer mehr Bewohner des Kiewer Stadtzentrums ihre Wohnviertel verlassen und aus der Stadt oder auf das linke Dnipro-Ufer fliehen. Auf den Brücken bildeten sich lange Staus, da die U-Bahn seit zwei Tagen nicht fährt. Lange Schlangen gab es auch vor Tankstellen und Geldautomaten.
Die von der ukrainischen Regierung angekündigte »Antiterroroperation« unter Beteiligung der Armee verläuft offenbar nicht störungsfrei. So sollen Bewohner der Region Dnipropetrowsk einen Transportzug durch eine Schienenblockade gestoppt haben. Präsident Wiktor Janukowitsch entließ den bisherigen Stabschef, der vor einem Eingreifen der Streitkräfte gewarnt hatte. Er wurde durch den Befehlshaber der ukrainischen Marine ersetzt. Diese ist zwangsläufig entlang der russischsprachigen Schwarzmeerküste stationiert und scheint als politisch zuverlässiger zu gelten als das aus dem ganzen Land rekrutierte Heer. In der Westukraine mehren sich derweil die Zersetzungserscheinungen in den Sicherheitsorganen. Im Transkarpatengebiet an der Grenze zu Ungarn sagten sich die Leiter sämtlicher Sicherheitsstrukturen von der Regierung los. Schon am Mittwoch hatten Demonstranten in Lwiw die örtliche Polizei und die Truppen des Innenministeriums entwaffnet und fast 1200 Schußwaffen erbeutet. Nach Presseberichten fielen ihnen auch fünf Schützenpanzer und einige Feldgeschütze in die Hände, die nach Kiew in Marsch gesetzt worden seien. Banken ließen aus Sorge vor Plünderungen die Geldautomaten leerräumen, Geschäftsinhaber verrammelten die Schaufenster.
In Kiew konferierten vom Vormittag an die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Polens mit Präsident Janukowitsch. Angaben eines Teilnehmers zufolge verlangten sie, Janukowitsch solle zum Jahresende 2014 zurücktreten. Das wäre drei Monate vor dem regulären Ende seiner Amtszeit. Ein einflußreicher Abgeordneter der Regierungspartei, Sergij Tigipko, rief Parlamentarier aller Parteien auf, sich zu einer Antikrisenfraktion zusammenzuschließen. Er bot an, einen Oppositionspolitiker zum Parlamentspräsidenten zu wählen, um die Beratung einer Verfassungsreform zu ermöglichen
jw
In der ukrainischen Hauptstadt beschießen sich Regierungsgegner und Polizei gegenseitig. Bis zum Abend erneut Dutzende Tote. Bürger fliehen aus Stadtzentrum
Von Reinhard Lauterbach
Die Umgebung des Unabhängigkeitsplatzes in Kiew war am Donnerstag Schauplatz heftiger Feuergefechte zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Bis zum Abend zählten Medien mehrere Dutzend Tote. Allein im zur Leichenhalle umfunktionierten Foyer des Hotels »Ukraina« waren bereits am Vormittag 13 Tote aufgebahrt. Ärzte bestätigten, daß die Sicherheitskräfte scharfe Munition einsetzten. Amateurvideos zeigen Polizisten mit Scharfschützengewehren im Anschlag. Das Innenministerium ordnete der Nachrichtenagentur dpa zufolge an, Sicherheitskräfte könnten landesweit mit scharfer Munition gegen radikale Demonstranten vorgehen. Aber auch die militanten Demonstranten sind inzwischen im Besitz von Schußwaffen und benutzen sie.
In der Nacht hatten die Führer der parlamentarischen Opposition noch einen Waffenstillstand mit Präsident Wiktor Janukowitsch ausgehandelt. Aber die militante Gruppe »Rechter Block« erklärte von Anfang an, sie fühle sich an die Vereinbarung nicht gebunden. Anhänger der Gruppe eroberten den Europaplatz und das anliegende »Ukrainische Haus« zurück. Dabei fielen etwa 60 Polizisten in ihre Hände, die im Schlaf überrascht worden waren. Die Regierungsgegner drohten mit Gewalt gegen die Geiseln, wenn die Polizei ihre Angriffe nicht einstelle. Die Eskalation der Kämpfe hat dazu geführt, daß immer mehr Bewohner des Kiewer Stadtzentrums ihre Wohnviertel verlassen und aus der Stadt oder auf das linke Dnipro-Ufer fliehen. Auf den Brücken bildeten sich lange Staus, da die U-Bahn seit zwei Tagen nicht fährt. Lange Schlangen gab es auch vor Tankstellen und Geldautomaten.
Die von der ukrainischen Regierung angekündigte »Antiterroroperation« unter Beteiligung der Armee verläuft offenbar nicht störungsfrei. So sollen Bewohner der Region Dnipropetrowsk einen Transportzug durch eine Schienenblockade gestoppt haben. Präsident Wiktor Janukowitsch entließ den bisherigen Stabschef, der vor einem Eingreifen der Streitkräfte gewarnt hatte. Er wurde durch den Befehlshaber der ukrainischen Marine ersetzt. Diese ist zwangsläufig entlang der russischsprachigen Schwarzmeerküste stationiert und scheint als politisch zuverlässiger zu gelten als das aus dem ganzen Land rekrutierte Heer. In der Westukraine mehren sich derweil die Zersetzungserscheinungen in den Sicherheitsorganen. Im Transkarpatengebiet an der Grenze zu Ungarn sagten sich die Leiter sämtlicher Sicherheitsstrukturen von der Regierung los. Schon am Mittwoch hatten Demonstranten in Lwiw die örtliche Polizei und die Truppen des Innenministeriums entwaffnet und fast 1200 Schußwaffen erbeutet. Nach Presseberichten fielen ihnen auch fünf Schützenpanzer und einige Feldgeschütze in die Hände, die nach Kiew in Marsch gesetzt worden seien. Banken ließen aus Sorge vor Plünderungen die Geldautomaten leerräumen, Geschäftsinhaber verrammelten die Schaufenster.
In Kiew konferierten vom Vormittag an die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Polens mit Präsident Janukowitsch. Angaben eines Teilnehmers zufolge verlangten sie, Janukowitsch solle zum Jahresende 2014 zurücktreten. Das wäre drei Monate vor dem regulären Ende seiner Amtszeit. Ein einflußreicher Abgeordneter der Regierungspartei, Sergij Tigipko, rief Parlamentarier aller Parteien auf, sich zu einer Antikrisenfraktion zusammenzuschließen. Er bot an, einen Oppositionspolitiker zum Parlamentspräsidenten zu wählen, um die Beratung einer Verfassungsreform zu ermöglichen
jw