Bosnischer Aufstand
Proteste gegen schlechte Lebensverhältnisse und Armut in Nachfolgestaat Jugoslawiens. Zehntausende gehen auf die Straße
Von Roland Zschächner
Am Freitag haben Zehntausende Menschen in Bosnien und Herzegowina für bessere Lebensverhältnisse und ein Ende der Armut demonstriert. Sie forderten die Absetzung der Regierung und sprachen sich gegen ausländische Einmischung aus. In sozialen Netzwerken war zu dem Protest unter dem Motto »50000 Menschen auf die Straßen für ein besseres Morgen« aufgerufen worden. In vielen Städten kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die teilweise die Kontrolle verlor: Lokale Verwaltungen wurden gestürmt. In der Hauptstadt Sarajevo wurde ein Regierungsgebäude in Brand gesetzt.
Ausgangspunkt der aktuellen Ereignisse waren Proteste Beschäftigter von fünf pleite gegangenen Unternehmen im nordostbosnischen Tuzla. Sie waren am Mittwoch vor den Sitz der Bezirksregierung gezogen und verlangten staatliche Hilfen. Viele von ihnen hatten über Monate keinen Lohn erhalten, außerdem wurde ihre Sozialversicherung nicht bezahlt. Ihre Forderungen wurden abgelehnt. Bosnien gliedert sich in Kantone und zwei Entitäten, jeweils mit eigenen Regierungen und weitreichenden Rechten.
Am Donnerstag weitete sich der Protest aus. Neben Arbeitern gingen auch Studenten und Rentner auf die Straße. Bis zu 7000 Menschen blockierten Straßen und riefen vor der Kantonsverwaltung »Diebe, Diebe«. Ihnen gelang es in das Gebäude einzudringen. Die Polizei prügelte sie mit Schlagstöcken hinaus, die davor wartende Menge wurde mit Tränengas vertreiben. Die Gewalt eskalierte: Steine und Flaschen flogen, Müllcontainer wurden angezündet. Über 130 Verletzte, vor allem Polizisten, wurden gezählt.
Noch in der Nacht traf sich Regierung der kroatisch-bosnischen Entität zu einer Krisensitzung. Auf die Forderungen der Demonstranten wurde nicht eingegangen, vielmehr ist am Freitag die Polizeipräsenz in Sarajevo, Tuzla und anderen Städten erhöht worden.
Die lokalen Medien sprechen bereits von einem »Bürgeraufstand« bzw. »bosnischen Frühling«. Am Freitag nachmittag trat Kantonspremier Sead Causevic zurück. In dem 3,8-Millionen-Einwohner-Land existieren starke soziale Verwerfungen. Tuzla symbolisiert den Niedergang durch den Kapitalismus: Die Stadt war im sozialistischen Jugoslawien ein industrielles Zentrum mit Arbeitsplätzen vor allem im Bergbau, der Energiegewinnung und der chemischen Produktion. Heute ist die Mehrheit der Kombinate pleite oder steht kurz davor. Viele Fabriken waren auf Druck internationaler Organisationen wie der Weltbank oder der Europäischen Union privatisiert worden. Meist wurden sie unter Wert an ausländische Konzerne oder einheimische »Geschäftsleute« verkauft. Es entstand, was in Bosnien als die »Pleitemafia« bezeichnet wird. Diese nutzt die Möglichkeit, um »Schwarzgeld« zu waschen: Die Firmen werden gezielt in den Bankrott geführt, die Maschinen und die Gebäude mit Gewinn verkauft und die Arbeiter auf die Straße gesetzt.
Laut einer Erhebung des bosnischen Statistikamtes sind im Kanton Tuzla rund 100000 Menschen arbeitslos, gegenüber 80000, die einen Job haben. In Bosnien liegt die Arbeitslosenquote bei rund 44 Prozent. Vor allem junge Leute sind davon betroffen. Die aktuellen Proteste haben das Potential, sich über ethnische Grenzen hinweg auszuweiten. Die Probleme sind überall gleich: korrupte Politiker, Massenarmut und miserable Lebensbedingungen. So verwundert es nicht, daß bei den Demonstrationen projugoslawische Parolen zu hören sind.
jw
Proteste gegen schlechte Lebensverhältnisse und Armut in Nachfolgestaat Jugoslawiens. Zehntausende gehen auf die Straße
Von Roland Zschächner
Am Freitag haben Zehntausende Menschen in Bosnien und Herzegowina für bessere Lebensverhältnisse und ein Ende der Armut demonstriert. Sie forderten die Absetzung der Regierung und sprachen sich gegen ausländische Einmischung aus. In sozialen Netzwerken war zu dem Protest unter dem Motto »50000 Menschen auf die Straßen für ein besseres Morgen« aufgerufen worden. In vielen Städten kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die teilweise die Kontrolle verlor: Lokale Verwaltungen wurden gestürmt. In der Hauptstadt Sarajevo wurde ein Regierungsgebäude in Brand gesetzt.
Ausgangspunkt der aktuellen Ereignisse waren Proteste Beschäftigter von fünf pleite gegangenen Unternehmen im nordostbosnischen Tuzla. Sie waren am Mittwoch vor den Sitz der Bezirksregierung gezogen und verlangten staatliche Hilfen. Viele von ihnen hatten über Monate keinen Lohn erhalten, außerdem wurde ihre Sozialversicherung nicht bezahlt. Ihre Forderungen wurden abgelehnt. Bosnien gliedert sich in Kantone und zwei Entitäten, jeweils mit eigenen Regierungen und weitreichenden Rechten.
Am Donnerstag weitete sich der Protest aus. Neben Arbeitern gingen auch Studenten und Rentner auf die Straße. Bis zu 7000 Menschen blockierten Straßen und riefen vor der Kantonsverwaltung »Diebe, Diebe«. Ihnen gelang es in das Gebäude einzudringen. Die Polizei prügelte sie mit Schlagstöcken hinaus, die davor wartende Menge wurde mit Tränengas vertreiben. Die Gewalt eskalierte: Steine und Flaschen flogen, Müllcontainer wurden angezündet. Über 130 Verletzte, vor allem Polizisten, wurden gezählt.
Noch in der Nacht traf sich Regierung der kroatisch-bosnischen Entität zu einer Krisensitzung. Auf die Forderungen der Demonstranten wurde nicht eingegangen, vielmehr ist am Freitag die Polizeipräsenz in Sarajevo, Tuzla und anderen Städten erhöht worden.
Die lokalen Medien sprechen bereits von einem »Bürgeraufstand« bzw. »bosnischen Frühling«. Am Freitag nachmittag trat Kantonspremier Sead Causevic zurück. In dem 3,8-Millionen-Einwohner-Land existieren starke soziale Verwerfungen. Tuzla symbolisiert den Niedergang durch den Kapitalismus: Die Stadt war im sozialistischen Jugoslawien ein industrielles Zentrum mit Arbeitsplätzen vor allem im Bergbau, der Energiegewinnung und der chemischen Produktion. Heute ist die Mehrheit der Kombinate pleite oder steht kurz davor. Viele Fabriken waren auf Druck internationaler Organisationen wie der Weltbank oder der Europäischen Union privatisiert worden. Meist wurden sie unter Wert an ausländische Konzerne oder einheimische »Geschäftsleute« verkauft. Es entstand, was in Bosnien als die »Pleitemafia« bezeichnet wird. Diese nutzt die Möglichkeit, um »Schwarzgeld« zu waschen: Die Firmen werden gezielt in den Bankrott geführt, die Maschinen und die Gebäude mit Gewinn verkauft und die Arbeiter auf die Straße gesetzt.
Laut einer Erhebung des bosnischen Statistikamtes sind im Kanton Tuzla rund 100000 Menschen arbeitslos, gegenüber 80000, die einen Job haben. In Bosnien liegt die Arbeitslosenquote bei rund 44 Prozent. Vor allem junge Leute sind davon betroffen. Die aktuellen Proteste haben das Potential, sich über ethnische Grenzen hinweg auszuweiten. Die Probleme sind überall gleich: korrupte Politiker, Massenarmut und miserable Lebensbedingungen. So verwundert es nicht, daß bei den Demonstrationen projugoslawische Parolen zu hören sind.
jw