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    Kampf um den Kiez

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    Kampf um den Kiez Empty Kampf um den Kiez

    Beitrag  Admin Fr Jan 24, 2014 11:02 pm

    Kampf um den Kiez
    Reportage. In Istanbul zerstören Gentrifizierung und Bauboom ganze Viertel. In einer Siedlung entsteht ein Pilotprojekt für selbstorganisierten Stadtumbau. Ein Besuch in Kücük Armutlu
    Von Thomas Eipeldauer, Istanbul


    Ali Agaoglu hat ein teures Hobby. Er sammelt Autos. Ein Rolls-Royce parkt in seiner Garage, daneben ein Bentley und – man ist ja umweltbewußt – der elektrische Tesla Roadster, mit dem er sich besonders gern fotografieren läßt. Ali Agaoglu muß nicht knausern, wenn es um seine Vorlieben geht. Der »Architekt der Träume«, wie ihn The Daily Telegraph in einem mehrseitigen Feature bewundernd nennt, ist Herr eines Firmenimperiums, das vor allem im Bau- und Immobiliengeschäft aktiv ist. Er zählt zu den zehn reichsten Türken, viele prestigeträchtige Projekte in Istanbul sind fest in seiner Hand.

    Daß Agaoglu sich insgesamt 17 Luxuskarossen leisten kann, daran hatten seine Freunde von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) keinen geringen Anteil. Die »urbane Transformation« zählt zu den zentralen Programmpunkten des neoliberalen Kurses von Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Die AKP treibt im Parlament die Deregulierung des Immobilienmarkts voran, damit die befreundeten Busineßcliquen sich am Umbau der Metropolen bereichern können. Seit sich neuerdings Staatsanwälte und Richter für Korruption interessieren, treten diese Beziehungen sogar noch klarer zutage.

    Insbesondere Istanbul ist im Zuge der »urbanen Transformation« zu einem Dorado für Investoren geworden. Die Stadt am Bosporus mit ihren – konservativ geschätzt – 14 Millionen Einwohnern bietet unzählbare Gelegenheiten, um legal, teilweise legal oder auch am Gesetz vorbei sein Kapital zu vermehren.

    Der »Architekt der Träume« ist einer der erfolgreichsten Experten dieser Art von Akkumulation. Der hemdsärmelige Selfmade-Milliardär hat die Dynamik der türkischen Metropolen begriffen – und sie zu Geld gemacht. Ein Konglomerat aus 30 Firmen mit insgesamt 10000 Beschäftigten kann er sein eigen nennen, wachsende Profite in den kommenden Jahren und vielleicht Jahrzehnten sind ihm sicher. Mit dem Istanbul Finance Center, dem 4800 Wohnungen umfassenden »Maslak 1453« und dem Projekt »My Europe«, bei dem 3800 Appartements entstehen sollen, ist er an drei der zentralen Prestigevorhaben beteiligt.

    Istanbul verändert seine Gestalt in diesem Bauboom. Gewachsene soziale Beziehungen zerbrechen, die Dienstleistungsarbeiter des modernen Istanbul schuften zwar im Stadtzentrum, wohnen aber in den Großbauten weit draußen. Obdachlosigkeit ist kein Randphänomen: Für marginalisierte Schichten ist kein Platz. Von der AKP-Regierung als Modernisierung, bei der jeder gewinnt, gepriesen, ist die Stadtumstrukturierung in Wirklichkeit »eine Zerstörung öffentlicher Räume, historischer Orte und der letzten verbleibenden Grünflächen sowie eine Verdrängung armer Bevölkerungsgruppen, um die Stadt nach dem Bild des Kapitals umzugestalten. All diese unerwünschten Orte und Menschen sollen Einkaufszentren, Hochhäusern, Büroflächen und glänzenden Nachbildungen historischer Gebäude weichen«, wie der Journalist Cihan Tugal in der arabisch-englischen Zeitschrift Jadaliyya am 13.7. 2013 schrieb.
    Vielfältiger Widerstand

    Allerdings vollzieht sich die »urbane Transformation« nicht ohne Widerstand. Der Massenaufstand im vergangenen Juni, der sich am geplanten Umbau des Gezi-Parks entzündete, war maßgeblich ein Kampf um das Recht auf Stadt. Dutzende Initiativen arbeiten in verschiedenen Vierteln an der Schaffung von Gegenmacht – von den traditionellen, meist marxistisch-leninistischen Parteien bis hin zu Künstlerkollektiven wie dem »Oda Projesi«.

    Ein besonders interessantes Projekt entsteht in einem Stadtteil im europäischen Teil Istanbuls. Etwa 45 Minuten braucht man vom Taksim-Platz mit Metro und Minibus nach Kücük Armutlu – wenn es der Verkehr zuläßt. Die auf einem Hügel nahe der zweiten Brücke über den Bosporus gelegene Siedlung ist ein Gecekondu, ein inoffizielles – und somit aus Sicht des türkischen Staates illegales – Viertel aus selbstgebauten Häusern.

    Kommt man hier an, hat man das Gefühl, man habe Istanbul verlassen – obwohl Kücük Armutlu eigentlich immer noch mitten in der Stadt liegt. Die Häuser sind einstöckig, nur wenige sind höher. Das Leben ist ruhig, kein Lärm, keine Hast, jeder kennt jeden – ganz anders als in den Vergnügungsmeilen von Kadiköy oder Beyoglu. Kücük Armutlu ist wie ein Dorf, mitten in einer Millionenmetrople.

    Im Cemevi, dem Gotteshaus der alevitischen Gemeinde, sitzen Frauen und Männer, die schon dabei waren, als in den 1980er Jahren die ersten Häuser errichtet wurden. »Es war leer damals«, erzählt Ibrahim. »Heute leben hier etwa 20000 Menschen in 6000 Häusern.« Probleme mit dem Staat gab es von Beginn an. Räumungsversuche, Polizeigewalt, Einschüchterung. In der Anfangszeit dieses Viertels, erzählt Ibrahim, sei ein achtjähriges Mädchen von einem Räumpanzer der Polizei überfahren worden.

    Auch heute ist der Status der Siedlung unsicher. Denn eigentlich ist alles, was hier gebaut wird, illegal. Zwar werden die Gecekondus manchmal toleriert, das aber nur so lange, wie dem türkischen Staat und seinen Busineßcliquen keine bessere Verwendung einfällt. Und nun gibt es wegen der Lage von Kücük Armutlu Aussicht auf schnellen Profit. Denn es ist nicht allzu weit von der Innenstadt entfernt. Zum Taksim-Platz muß man nicht allzu lang fahren. Vor allem aber: Der Ausblick auf die Meerenge zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil Istanbuls ist atemberaubend, insbesondere wenn es Abend wird und sich die Tausenden Lichter der Stadt im Wasser spiegeln.
    Tarlabasi, Sulukule, Ayazma

    Gerade diese malerische Sicht ist gefährlich. Denn sie weckt Begehrlichkeiten bei jenen, die aufs schnelle Geld aus sind. Was mit inoffiziellen Siedlungen wie dieser im Goldrausch der Gentrifizierung geschehen kann, konnte man zum Beispiel in Tarlabasi, Sulukule und Ayazma beobachten.

    Tarlabasi liegt in Beyoglu, also jenem Bezirk, der das pulsierende Herz des europäischen Teils Istanbuls ausmacht. Vor dem Beginn der »urbanen Transformation« sei Tarlabasi ein Raum für »alle unterdrückten Menschen in der Türkei, für Kurden, schwarze Immigranten, Roma, Transsexuelle, Sexarbeiter, arbeitslose Einwanderer« gewesen, meint der Architekt Bertan Koyuncu. Dann kam TOKI, die staatliche Wohnungsbaugesellschaft für Istanbul, die ein Big Player im Baugeschäft ist, und erklärte die Gegend zur »urbanen Erneuerungszone«. Der bisherige Raum mit seinen gewachsenen sozialen Beziehungen ist akut gefährdet. Diejenigen, die jetzt hier leben, werden früher oder später einkommensstärkeren Schichten weichen müssen.

    Ähnlich sieht es ein paar Kilometer weiter aus. Sulukule war jahrhundertelang eines der Zentren der Roma-Kultur in Istanbul. Auch hier wird ohne Rücksicht auf Verluste geräumt. 2004 begann die Bürgermeisterei, den Roma ihre Häuser für den lächerlichen Quadratmeterpreis von umgerechnet 300 US-Dollar abzukaufen – in den angrenzenden Vierteln, so berichtet der Journalist Kerem Schamberger, liegt der Preis beim Elffachen. 45 Kilometer entfernt wurden den Familien dann Neubauwohnungen, die wesentlich teurer waren, angeboten. Das Ergebnis: Am Ende kehrten fast alle in die umliegenden Straßen Sulukules zurück – nur das Viertel und ihre Häuser gab es nicht mehr. »In Sulukule wurden die Roma durch die Transformation von ihrem Raum ausgeschlossen, und ihre Räume wurden konfisziert. Das Resultat ist, daß ihre kulturellen und lebensweltlichen Kapazitäten zerstört wurden«, so Bertan Koyuncu.

    Der Film »Ekümonopolis« dokumentiert das Schicksal einiger Familien, deren Häuser mit Bulldozern abgeräumt wurden. »Jeder verdient es, in einem Haus mit Swimmingpool zu leben«, preist in dem Streifen Ali Agaoglu eines seiner Bauvorhaben an. »Jeder kann ein Appartement besitzen.« Er lacht, im Hintergrund läuft pathetische Musik. Dann schwenkt die Kamera: Zerstörte Gebäude in Ayazma. Hier mußten 18 Familien einem Bauprojekt weichen, es sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Ein Areal, das vorher keinen interessierte, wurde durch den Neubau des Olympischen Stadions zu wertvollem Baugrund. »Ayazma ist ein lebendes Dokument neoliberaler Politik. Es ist ein Dokument kapitalistischer Interessen, die in der Stadt einen Raum für Spekulationen sehen«, sagt Cihan Uzuncarsilioglu Baysal von der Istanbuler Bilgi Universität in »Ekümonopolis«.

    Hochburg der Revolutionäre

    Dieses Schicksal schwebt wie ein Damoklesschwert über Kücük Armutlu. Hier allerdings gibt es eine Besonderheit. Es zählt zu jenen Armen- und Arbeitervierteln, in denen militante revolutionäre Gruppen stark verankert sind. Hier ist es die von der türkischen Regierung als terroristisch eingestufte Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP-C), die eine bedeutende Rolle in dem Stadtteil spielt und in der Bevölkerung hohes Ansehen genießt.

    Kein Haus ohne Wandmalereien und Plakate, im Cemevi gibt es einen eigenen Raum mit den Bildern der gefallenen Kämpfer der Organisation; immer wieder finden Demonstrationen im Kiez statt. Anfang der 2000er Jahre war Kücük Armutlu eines der Zentren des »Todesfastens«, der Hungerstreikbewegung gegen die wegen Isolationshaft international geächteten F-Typ-Gefängnisse in der Türkei.

    Zusammen mit der lokalen Bevölkerung organisieren die Revolutionäre das Leben im Kiez. Es gibt Regeln, will man hier wohnen. Regeln, die nicht vom Staat oder den Spekulanten gemacht werden, sondern von der Bevölkerung vor Ort. Aus den Häusern darf kein Profit geschlagen werden, sie dürfen nicht verkauft oder vermietet werden. Auch Anbauten sind nur eingeschränkt möglich. Stirbt jemand oder zieht eine Familie weg, entscheidet die Community, was mit dem Haus geschehen soll.

    Trotzdem wendet man sich in Kücük Armutlu nicht gegen jede Veränderung. Im Gegenteil, man will den Stadtteil verbessern, aber nicht auf Kosten von Mensch und Natur. Baris Önal, einer von vielen linken Architekten und Ingenieuren, die sich mit der Planung der Umstrukturierung in Kücük Armutlu beschäftigen, zeigt mir die Baustelle neben dem alten Cemevi. »Hier soll ein neues Versammlungshaus entstehen, ein alevitisches Cemevi auf der einen Seite, Cafés und Räume für Veranstaltungen auf der anderen.« Natürlich alles ohne jedwede Baugenehmigung, die würde man sowieso nicht bekommen. Der örtliche Bürgermeister von der nationalistisch-sozialdemokratischen CHP unterstützt das Vorhaben; er ist bei den alten Leuten im Cemevi durchaus beliebt. Allerdings hat er bei dem Organisierungsgrad der Revolutionäre hier auch kaum eine Wahl, will er im Amt bleiben.

    Baris Önal erzählt aber noch von viel weitgehenderen Plänen. Die Entwicklung von Kücük Armutlu soll nämlich ökologisch ausgewogen vor sich gehen. Die Berücksichtigung von Umweltproblemen ist für eine alternative Stadtplanung in Istanbul zentral. Die Luftqualität hier ist katastrophal, an Winterabenden fällt das Atmen schwer. Das öffentliche Verkehrsnetz ist unzureichend, Trinkwasser wird knapp. Wenn es um ihre Bauvorhaben geht, ignoriert die Regierung ökologische Fragen komplett. Die Regierung legt überhaupt keinen Wert auf Umweltaspekte. Die geplante dritte Bosporusbrücke wird die Stadt weiter anwachsen lassen, über 20 Millionen Menschen werden dann hier leben. Kritiker befürchten, daß so die letzten Wälder im Norden der Stadt zugrunde gehen könnten. Die »urbane Transformation« hat viele »Kollateralschäden«.

    Im kleinen soll Kücük Armutlu dazu eine Alternative aufzeigen. »Während Regierung und Konzerne immer von nachhaltiger Entwicklung reden und das genaue Gegenteil tun, gibt es in der Bevölkerung seit langem einen weniger umweltzerstörenden Lebensstil. Die Menschen hier produzieren weniger Abfälle, sie versuchen, alles wiederzuverwenden, solange das möglich ist – weil sie eben müssen und sich den Stil der Wegwerfgesellschaft gar nicht leisten können«, sagt Baris Önal. »Man nimmt die einfachen Menschen immer als ungebildet wahr, aber sie wissen sehr viel, wenn es darum geht, wie man seinen Alltag bewältigen kann.«

    An diese Lebensweise möchte man anknüpfen und den Bewohnern hier dennoch eine bessere Versorgung zur Verfügung stellen. »Derzeit arbeiten wir daran, die Häuser mit Solarzellen zu bestücken und so unseren eigenen Strom zu erzeugen.« Es soll Energieautonomie erreicht werden. Das sei deshalb möglich, erklärt mir Baris Önal, weil der Verbrauch hier ohnehin gering sei. Es ist nicht wie in den Upperclass-Haushalten wenige Kilometer weiter, mit vier Laptops, drei Fernsehern, elektrischem Nasenhaarschneider und Pürierstab. Dazu kommt, daß die Häuser keine Massenquartiere sind. Meistens lebt in einem Haus eine Familie, wenn auch eine große. Teilt man die Solarfläche auf dem Dach durch die Anzahl der Bewohner bleibt da natürlich mehr, als würde man dasselbe bei einem zwölfstöckigen Hochhaus machen. Demokratische Organisation des Viertels plus Elektrifizierung, das ist die Formel, nach der die Revolutionäre hier zur Zeit arbeiten.
    Angriffe von vielen Seiten

    Allerdings: Dieser Aufbau ist von vielen Seiten gefährdet. Zum einen kann jederzeit die Gentrifizierungsoffensive von Staat und Kapital beginnen. Zum anderen steht die hier aktive Organisation DHKP-C ohnehin im Fokus der Repression. Weil sie den bewaffneten Kampf als legitim ansieht, sitzen Hunderte ihrer Mitglieder und Sympathisanten in Gefängnissen, viele von ihnen für Jahrzehnte. Man muß nicht Teil der Gruppe sein – ihre Ziele zu teilen und sie zu »propagieren« reicht aus, um lange Jahre im Knast zu verbringen.

    Aber nicht allein der Staat ist ein Problem. In den Armenvierteln versuchen sich die Deklassierten und Ausgestoßenen oft an einer eigenen Variante der Kapitalakkumulation. Gangs, die im Drogen- und Prostitutionsgeschäft aktiv sind, machen den linken Gruppen in Okmeydani, Gazi, Gülsuyu und auch hier, in Kücük Armutlu, das Terrain streitig.

    »Unsere Freunde werden, wenn sie zum Beispiel öffentlich Heroin verbrennen, für Jahre eingesperrt. Die Drogengangs dagegen dürfen tun, was sie wollen«, berichtet ein Aktivist der Revolutionären Volksbefreiungsfront. Beweisen läßt sich das freilich nur schwer, aber die Menschen in Kücük Armutlu und anderen umkämpften Stadtteilen sind überzeugt, daß die kriminellen Banden sowohl vom Staat unterstützt werden, wie auch mit der Baumafia zusammenarbeiten. In Kücük Armutlu wohnt die Familie von Hasan Ferit Gedik, der zu einem Symbol dieser zweiten Front im Kampf um die Stadtteile wurde, nachdem er Ende September 2013 bei einer Demonstration in Gülsuyu von Drogendealern auf offener Straße erschossen wurde. Sechs Kugeln trafen den 21jährigen.

    Daß staatliche Behörden, Baukonzerne und Drogenbanden bei der Gentrifizierung von revolutionären Stadtteilen ein Bündnis eingehen, zeigt gerade auch Hasan Ferit Gediks Fall: »Die Bewohner von Gülsuyu sagen, daß die Drogendealer von den Baufirmen unterstützt und von der Polizei geschützt werden, um den Interessen der sogenannten Landmafia zu dienen, mächtigen Gruppen, die die Bewohner des Stadtteils vertreiben wollen, so daß neue Projekte in der heruntergekommenen Nachbarschaft lanciert werden können«, schrieb Today’s Zaman nach dem Mordanschlag. Nuray Gedik, die Mutter des Getöteten, erzählt, daß sie nicht den Eindruck hatte, die Polizei hätte sich sonderlich für die Verfolgung der Täter interessiert – im Gegenteil. Man habe zwei Zivilpolizisten gestellt, als sie nach dem Mord versuchten, im Krankenhaus Beweismaterial zu vernichten. Zwar befinden sich einige Gangmitglieder in Haft. Das allerdings, so erzählen Aktivisten in Kücük Armutlu, sei eher eine Art Schutz. »Man will nicht, daß die DHKP-C sie erschießt. Sie sitzen zu ihrem eigenen Schutz im Gefängnis«.
    Recht auf Stadt

    Trotz Drogengangs, Staat und Baumafia ist Baris Önal optimistisch. »Hier könnte ein Pilotprojekt entstehen, das Vorbild für viele andere Viertel werden kann.« Ein solches bräuchte Istanbul dringend. Der Dystopie einer Finanz-, Tourismus- und Reichenmetropole, in der sich schon jetzt kaum noch einer den Alltag leisten kann, der nicht aus der aufstrebenden Mittel- und Oberschicht kommt, wollen viele etwas entgegensetzen. Letztlich, so schrieb der marxistische Geograph David Harvey in »Rebel Cities«, kann »die Frage, in welcher Art von Stadt wir leben wollen, nicht von der Frage getrennt werden, welche Art von Menschen wir sein wollen, welche Art von sozialen Beziehungen wir anstreben, welches Verhältnis zur Natur wir pflegen, welchen Lebensstil wir uns wünschen, an welchen ästhetischen Werten wir festhalten«.

    Wer durch die seelenlosen Hochhaussiedlungen Istanbuls gefahren ist, den Zombiestädten in der Peripherie, und das mit der spannenden, chaotischen Lebendigkeit von Vierteln wie Tarlabasi vergleicht, der kann nicht übersehen, in welchem Ausmaß Leben und Nachbarschaft durch die »urbane Transformation« verkümmern. Ob sich dieser Prozeß aufhalten läßt, ist ungewiß. Die Aussichten sind jedenfalls seit dem Juni 2013 besser geworden. Der Aufstand vom Gezi-Park hat auch hier andere Maßstäbe gesetzt, ein neues Bewußtsein für die vielfältigen Problemlagen geschaffen. Er war Resultat des Widerstands gegen die »urbane Transformation« und zugleich Ausgangspunkt einer neuen Phase des Kampfes, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war.

    Bei Sonnenuntergang geht es von Kücük Armutlu zum Taksim-Platz. Dort spielt sich gerade ein Tumult ab. Zwei Brüder, Waisenkinder aus einem Armenviertel, haben versucht, ohne Ticket über die Absperrung zur Metro zu gelangen. Ein Wachmann des Sicherheitsdienstes verlor die Nerven und schlug einem der beiden mit einem Metalldetektor auf den Kopf. Der Jugendliche bleibt schwerverletzt liegen, Blut rinnt aus einer offenen Kopfwunde, er ist bewußtlos.

    Kaum zwölf Stunden später sammeln sich in derselben Metrostation mehrere hundert Menschen. Argwöhnisch beobachtet von der martialisch ausstaffierten Polizei fordern sie freien öffentlichen Verkehr. »Ohne den Gezi-Aufstand wäre das nicht möglich gewesen. Die Leute reagieren heute sehr viel sensibler und schneller auf diese Ungerechtigkeiten«, sagt eine Aktivistin. Die Kämpfe um das Recht auf Stadt haben viele Fronten in Istanbul.



    Thomas Eipeldauer arbeitet als Redakteur beim Nachrichtenmagazin Hintergrund. Zuletzt schrieb er auf diesen Seiten am 6.7.2013 über Aspekte zu den Kämpfen bei Besetzungen öffentlicher Orte wie des Zucotti-, Syntagma- und Taksim-Platzes.
    jw

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