Staatsmacht bröckelt
Ukraine: Demonstranten besetzen weitere öffentliche Gebäude in Kiew. Oppositionsführer weisen Angebote Janukowitschs zurück
Von Reinhard Lauterbach
In Kiew haben die militanten rechten Demonstranten ihre Kontrolle über das Stadtzentrum ausgeweitet. Mit der Drohung, das Gebäude anzuzünden, erzwangen sie am Wochenende, daß etwa 200 Sicherheitskräfte das Kongreßzentrum »Ukrainisches Haus« räumten. Die Soldaten des Innenministeriums waren am Samstag in das Gebäude eingerückt, das im Rücken der Barrikaden liegt, an denen sich rechte Demonstranten seit etwa einer Woche blutige Kämpfe mit der Polizei liefern. Ein erster Versuch, das Gebäude zu stürmen, war am Widerstand der Soldaten gescheitert. Als Demonstranten durch die eingeschlagenen Fenster Autoreifen in die Halle warfen und die Gefahr einer Brandstiftung drohte, schaltete sich Oppositionsführer Witali Klitschko ein und handelte den kampflosen Abzug der Soldaten aus.
In den Regionen der Ukraine haben Regierungsgegner inzwischen in elf von 26 Gebieten die Regionalverwaltungen besetzt und die Gouverneure zum Rücktritt gezwungen. Unter der Kontrolle der Opposition sind bis auf das Transkarpatengebiet im äußersten Südwesten alle Regionalhauptstädte der Westukraine sowie die von Tschernigow und Sumy im Norden. Erstmals kam es zu einem Angriff in der südukrainischen Industriestadt Zaporoschje. Dort versuchten Demonstranten aus einer Menge von mehreren tausend Teilnehmern heraus, die Gebietsverwaltung zu stürmen. Die Polizei setzte Tränengas ein. Der überwiegend russischsprachige Süden der Ukraine galt neben dem Donbass bisher als Hochburg der regierenden Partei der Regionen.
Die Führer der parlamentarischen Opposition wiesen am Samstag den Vorschlag von Präsident Janukowitsch zu einer Art »großer Koalition« zurück. Der Staatschef hatte dem Führer der Vaterlandspartei, Arseni Jazenjuk, das Amt des Regierungschefs angeboten. Witali Klitschko sollte stellvertretender Ministerpräsident für das Ressort Kultur und Bildung werden. Zudem hatte Janukowitsch Straffreiheit für alle festgenommenen Demonstranten und die Rücknahme der umstrittenen neuen Versammlungsgesetze angeboten. Doch die Opposition geht jetzt aufs Ganze. Sie erneuerte ihre Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen und nach einer Rückkehr zur vor 2004 geltenden Verfassung. Diese stärkt das Parlament gegenüber dem Präsidenten und war seinerzeit als Folge der »orangen Revolution« in einer ähnlichen Pattsituation wie heute zugunsten des damaligen Oppositionsführers Wiktor Juschtschenko geändert worden.
Janukowitschs neue Kompromißbereitschaft hat mehrere Gründe. Zum einen kann er nicht ignorieren, daß er de facto nur noch das halbe Land regiert – zwar die reichere und bevölkerungsstärkere Hälfte, aber die Hauptstadt Kiew etwa nur noch zum Teil. Eine Staatsmacht, die 500 Meter vom Präsidentenpalast entfernt endet, hat ein Problem, auch wenn Korrespondenten berichten, daß außerhalb des von der Opposition besetzten Bereichs im Zentrum das Leben in der Stadt normal verläuft. Vor allem aber bröckelt offenbar Janukowitschs Rückhalt in der Oligarchie. So ließ sein bisheriger Mentor und Chef des »Donezker Clans«, Rinat Achmetow, auf Firmenpapier eine Erklärung verbreiten, in der vor einer gewaltsamen Lösung des Konflikts gewarnt wird. Und der mit der Opposition sympathisierende Unternehmer Petro Poroschenko traf sich mit dem Stahlbaron und Oberhaupt des »Dnepropetrowsker Clans«, Boris Pintschuk. Es dürfte um die Fortsetzung der gedeihlichen Geschäfte gegangen sein.
jw
Ukraine: Demonstranten besetzen weitere öffentliche Gebäude in Kiew. Oppositionsführer weisen Angebote Janukowitschs zurück
Von Reinhard Lauterbach
In Kiew haben die militanten rechten Demonstranten ihre Kontrolle über das Stadtzentrum ausgeweitet. Mit der Drohung, das Gebäude anzuzünden, erzwangen sie am Wochenende, daß etwa 200 Sicherheitskräfte das Kongreßzentrum »Ukrainisches Haus« räumten. Die Soldaten des Innenministeriums waren am Samstag in das Gebäude eingerückt, das im Rücken der Barrikaden liegt, an denen sich rechte Demonstranten seit etwa einer Woche blutige Kämpfe mit der Polizei liefern. Ein erster Versuch, das Gebäude zu stürmen, war am Widerstand der Soldaten gescheitert. Als Demonstranten durch die eingeschlagenen Fenster Autoreifen in die Halle warfen und die Gefahr einer Brandstiftung drohte, schaltete sich Oppositionsführer Witali Klitschko ein und handelte den kampflosen Abzug der Soldaten aus.
In den Regionen der Ukraine haben Regierungsgegner inzwischen in elf von 26 Gebieten die Regionalverwaltungen besetzt und die Gouverneure zum Rücktritt gezwungen. Unter der Kontrolle der Opposition sind bis auf das Transkarpatengebiet im äußersten Südwesten alle Regionalhauptstädte der Westukraine sowie die von Tschernigow und Sumy im Norden. Erstmals kam es zu einem Angriff in der südukrainischen Industriestadt Zaporoschje. Dort versuchten Demonstranten aus einer Menge von mehreren tausend Teilnehmern heraus, die Gebietsverwaltung zu stürmen. Die Polizei setzte Tränengas ein. Der überwiegend russischsprachige Süden der Ukraine galt neben dem Donbass bisher als Hochburg der regierenden Partei der Regionen.
Die Führer der parlamentarischen Opposition wiesen am Samstag den Vorschlag von Präsident Janukowitsch zu einer Art »großer Koalition« zurück. Der Staatschef hatte dem Führer der Vaterlandspartei, Arseni Jazenjuk, das Amt des Regierungschefs angeboten. Witali Klitschko sollte stellvertretender Ministerpräsident für das Ressort Kultur und Bildung werden. Zudem hatte Janukowitsch Straffreiheit für alle festgenommenen Demonstranten und die Rücknahme der umstrittenen neuen Versammlungsgesetze angeboten. Doch die Opposition geht jetzt aufs Ganze. Sie erneuerte ihre Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen und nach einer Rückkehr zur vor 2004 geltenden Verfassung. Diese stärkt das Parlament gegenüber dem Präsidenten und war seinerzeit als Folge der »orangen Revolution« in einer ähnlichen Pattsituation wie heute zugunsten des damaligen Oppositionsführers Wiktor Juschtschenko geändert worden.
Janukowitschs neue Kompromißbereitschaft hat mehrere Gründe. Zum einen kann er nicht ignorieren, daß er de facto nur noch das halbe Land regiert – zwar die reichere und bevölkerungsstärkere Hälfte, aber die Hauptstadt Kiew etwa nur noch zum Teil. Eine Staatsmacht, die 500 Meter vom Präsidentenpalast entfernt endet, hat ein Problem, auch wenn Korrespondenten berichten, daß außerhalb des von der Opposition besetzten Bereichs im Zentrum das Leben in der Stadt normal verläuft. Vor allem aber bröckelt offenbar Janukowitschs Rückhalt in der Oligarchie. So ließ sein bisheriger Mentor und Chef des »Donezker Clans«, Rinat Achmetow, auf Firmenpapier eine Erklärung verbreiten, in der vor einer gewaltsamen Lösung des Konflikts gewarnt wird. Und der mit der Opposition sympathisierende Unternehmer Petro Poroschenko traf sich mit dem Stahlbaron und Oberhaupt des »Dnepropetrowsker Clans«, Boris Pintschuk. Es dürfte um die Fortsetzung der gedeihlichen Geschäfte gegangen sein.
jw